Sprüche wie “Blut ist dicker als Wasser” höre ich häufig, oftmals von nahen Verwandten. Aussagen solcher Art sollen das unsichtbare Band zwischen Angehörigen einer Familie deutlich machen. Schier magisch soll ich mich zu diesen Personen hingezogen fühlen. Auch Streitigkeiten sollen sich durch die Ähnlichkeit in den Genen schlichten lassen.
Egal wie sehr ich Aussagen wie diesen glauben schenken wollte, denn sie hören sich initial doch sehr positiv an, habe ich festgestellt, dass das mit großen Nachteilen verbunden ist. Es gibt dieses Band nicht, das nur dadurch existiert, dass man blutsverwandt ist. In diesem Beitrag will ich also näher drauf eingehen, was für Muster sich aufzeigen, wozu es dient und warum diese Denkweise dazu führen kann, dass man viel Toxizität in sein Leben lässt.
Sprüche wie Sand am Meer
Zunächst einmal ein paar Beispiele für Sprüche, die in solch einem Umfeld fallen, in welchem die oben genannte Mentalität vorherrscht. Zumindest einen dieser Sprüche, wenn nicht sogar alle, haben die meisten unter uns sicherlich gehört. (Die Namen sind frei gewählt.)
- “Onkel Jochen hat uns damals beim Umzug geholfen.”
- “Tante Xenia ist immer in schweren Zeiten bei uns.”
- “Du bist mit diesen Personen aufgewachsen!”
- “Ohne diese Personen gäbe es dich nicht!”
- “So spricht man doch nicht mit seinem Opa.”
- “Aber das ist doch dein/e (hier Verwandtschaftsbezeichnung einfügen)!”
Das, was in Aussagen wie den obigen mitgeteilt wird, kann leicht kategorisiert werden in Erwartungen, die mit der Verwandtschaft einhergehen. Folgend die, in meinen Augen, relevantesten Kategorien.
Der Freifahrtsschein
Oftmals sollen Verwandte in Situationen in denen diese eine nicht gerade positive Handlung getroffen oder Aussage getätigt haben, Freifahrtsscheine von uns erhalten. Dieser Logik entsprechend soll soll dieser Person verziehen werden oder über die Folgen deren Handelns hinweggesehen werden. Doch wieso eigentlich? Der Grund ist meist ein simples: weil diese Person mit dir verwandt ist.
Oma Gerlinde dreht wieder mal am Rad
Wer kennt es nicht? Ein Verwandter ist sehr direkt und rücksichtslos auf die Gefühle seiner Mitmenschen. So auch Oma Gerlinde, die alles und jeden vom Hof jagt, der nicht das tut, was sie will. So auch mich, der sich nicht scheut vor einer direkten Konfrontation. Das gefällt Oma Gerlinde nicht und sie beschimpft mich ungleich allem, was ich tolerabel finde. Nun kommen andere Verwandte daher, beispielsweise die Kinder der Oma, also Onkel und Tanten, und wollen, dass ich Oma Gerlinde vergebe, da sie halt so ist, wie sie ist und sie meine Oma ist. Ist das so? Na dann ist doch alles geklärt. Ich lasse diesen Menschen einfach auf mir rumhüpfen und toleriere alles was sie sagt und macht. Ich wusste nicht, dass das so einfach ist.
Die Unterstützungsverpflichtung
Manch ein Verwandter benötigt gelegentlich Hilfe. Oft geht es um den Umzug. Je nach professioneller oder semi-professioneller Expertise, kann es auch vorkommen, dass die Unterstützung in anderen Themen benötigt wird. Dabei ist es dann normal, dass alle Kriegsbeile begraben werden und man zur Unterstützung alles stehen und liegen lässt und sich auf direkten Weg zum Verwandten begibt.
Onkel Jochen zieht um
Onkel Jochen zieht um und benötigt Unterstützung. Statt dass er ein Umzugsunternehmen beauftragt, möchte er mit Hilfe seiner Liebsten den Umzug bewältigen. Das ist sein gutes Recht, doch eigentlich mag ich Onkel Jochen nicht und er mag mich auch nicht. Zähle ich zu dem Kreis seiner Liebsten? Eigentlich nicht. Zudem hat er auch bei meinem Umzug nicht mitgeholfen und das ohne jeglichen Grund. Er frägt mich trotzdem. Soll ich nun hingehen? Warum sollte ich das tun? Acho stimmt ja, er ist mein Onkel.
Die Teilnahmeverpflichtung
Ab und zu finden Veranstaltungen statt, an denen eine implizite Pflicht existiert an diesen teilzunehmen. Dabei ist es erstmal egal, ob Streitigkeiten existieren oder nicht (analog zur Unterstützungsverpflichtung), denn diese sind im Angesicht der Veranstaltung zweitrangig. Am Ende sind das Verwandte und bekanntermaßen ist Blut dicker als Wasser.
Hannelore in Bielefeld
Die Cousine Hannelore heiratet in Bielefeld. Selbstverständlich lädt sie mich ein und ich muss rüber, obwohl ich diese Cousine vielleicht vier mal in meinem Leben gesehen habe und sie sonst nicht kenne. Das ist doch eine gute Möglichkeit Hannelore kennenzulernen. Oder aber ich nutze die Tage und das Geld anderweitig, beispielsweise für eine tolle Zeit mit Leuten, die mir auch wirklich was bedeuten.
Analyse des Mindset
Den Sinn hinter all diesen Sprüchen sollten wir uns nochmal vergegenwärtigen, denn diesen möchte ich nicht außenvor lassen:
Es ist beruhigend die Garantie für ein Auffangnetz zu haben, wenn ein Notfall eintritt oder ein Ereignis eintritt, bei welchem helfende Hände nützlich wären. Die eigenen Hände sollten entsprechend auch für andere da sein und denen helfen, wenn Not am Mann ist.
Es Menschen sind, mit denen man von Beginn seines Lebens an zu tun hat. Man hat direkt sehr viel gemeinsam mit diesen und automatisch erlebt man vieles mit diesen Personen. Das stärkt die Bindung und macht es einfacher zu vergeben.
Auch ist es einfacher mit Verwandten Beziehungen zu pflegen, weil das unsichtbare Band existiert. Dadurch muss nicht so viel Zeit und Mühe reingesteckt werden und niemand ist sich lange böse. Denn jeder hört die Sprüche, wie “Ruf doch mal wieder bei deiner Tante an, die würde sich freuen.”
Im Grunde dient das alles also dazu, den Zusammenhalt in einer Gruppe zu stärken und individuelle Differenzen beiseite zu legen. Dadurch fühlt man sich automatisch einer Gruppe zugehörig, nämlich der eigenen Familie.
Die Nachteile liegen auf der Hand
Das Problem dabei ist jedoch, dass wir viel Toxizität in unser Leben lassen. Dies geschieht indem wir uns mit Leuten abgeben, mit denen wir uns sonst nicht abgeben würden. Hinzu kommt, dass wir Verhalten tolerieren, das wir sonst nicht tolerieren würden. Wir setzen uns wiederholt Leuten und deren Überzeugungen aus, die, wären sie nicht mit uns verwandt, mehr als entferne Bekannte nicht sein würden. Und das immer wieder.
Je größer die Familie ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir regelmäßigen Kontakt mit Familienmitgliedern haben. Das kann auch daher rühren, dass wir uns mit unserer Cousine gut verstehen. Jedoch sollte auch hier bedacht werden, dass die Toxizität nicht aufhört, denn das worüber gesprochen wird, ist das, was beide gemeinsam haben. Das was beide gemeinsam haben ist ein Teil der Familie. Daher wird oft über andere Familienmitglieder gesprochen und dann meist über diejenigen, die den meisten Trubel generieren: die toxischen Verwandten.
Fazit
Am Ende müssen wir uns vor Augen halten, dass wir nahezu immer die Wahl haben, mit wem wir uns abgeben. Indem wir uns aussuchen welche Familienmitglieder, wenn überhaupt, in unserem Leben eine Rolle spielen sollen (oder dürfen), können wir unsere Energie in diese Beziehungen investieren und gegebenenfalls den Startbonus ausnutzen, den die Blutsverwandtschaft, und alles was damit verbunden ist, mit sich bringt.
Den Kontakt zu einigen Personen abzubrechen mag schwierig erscheinen. Es ist auch nicht einfach sich gegen all die Konventionen, Erwartungen und Wünsche zu behaupten, doch ist dies nicht unmöglich. Dieses Recht dürfen wir uns nicht durch sozialen Druck nehmen lassen, denn ansonsten lassen wir Menschen in unser Leben, die da keinen Platz haben sollten und mit ihnen ihre Negativität und viel Leid.